Notstand in der Kinderintensivpflege: „Kinder tragen schwere Folgeschäden davon“
Aktionsbündnis Angeborene Herzfehler (ABAHF) warnt vor prekärer Situation in der Kinderintensivmedizin und den Folgeschäden für schwer herzkranke Kinder mit Bedarf an intensivmedizinischer Versorgung
(Frankfurt a. M., 14. Dezember 2022) Die kritische Lage auf Kinderintensivstationen an Deutschlands Kinderkliniken verfolgt das Aktionsbündnis Angeborene Herzfehler (ABAHF) mit höchster Besorgnis. Dem Bündnis gehören alle sechs bundesweit tätige Patientenorganisationen an. Der chronische Personalmangel in den Pflegediensten der Kinderkrankenhäuser in Deutschland sorgt bereits seit Jahren zu einem nicht tragbaren Notstand in der Kinderintensivpflege. Vor allem auf den Kinderherz-Intensivstationen ist eine dramatische Unterbesetzung der Pflegedienste zu beklagen. Bereits vor der Corona-Pandemie mussten Kinderherzzentren im Schnitt 30 Prozent der Intensivbetten wegen Pflegekräftemangels sperren. Jährlich kommt es in Deutschlands Kinderherzkliniken zu fast 26.000 Klinikaufnahmen für die Behandlung von angeborenen Herzfehlern.
Besonders alarmierend sind Zahlen der jüngsten Umfrage der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) zur aktuellen Situation der Kinderintensivmedizin in Deutschland (1). Der Erhebung (Ad-hoc-Umfrage) zufolge hatten von 110 Kinderkliniken zuletzt 43 kein Bett mehr auf der Normalstation frei. In ganz Deutschland gab es gerade einmal 83 freie Betten auf Kinderintensivstationen, also lediglich 0,75 pro Klinik. Es gibt Räumlichkeiten und sogar Ärzte, aber kein Pflegepersonal. Grund für die Sperrung von fast 40 Prozent der Intensivbetten für Kinder ist laut DIVI hauptsächlich der Personalmangel.
Engpässe in den Kinderkrankenhäusern: „Für alle ein unhaltbarer Zustand“
„Aufgrund der jetzigen Situation ist davon auszugehen, dass Kinder in Notfallsituationen – das kann eine Komplikation aufgrund eines angeborenen Herzfehlers sein - schwere Folgeschäden davontragen und im schlimmsten Fall versterben, wenn sie wegen fehlender Intensiv-Pflegekräfte nicht rechtzeitig intensivmedizinisch versorgt werden. Dies ist für alle ein unhaltbarer Zustand, auf den sofort reagiert werden muss“, betont der Notfall- und Intensivmediziner Prof. Dr. med. Stefan Hofer, Interessensvertreter der Eltern herzkranker Kinder im Vorstand der Deutschen Herzstiftung. Alarmierend sind die Appelle und Hilferufe von Kinderintensivmedizinern unmittelbar aus den Kliniken, die eine intensivmedizinische Versorgung von Kindern als nicht mehr gewährleistet einstufen. Dr. med. Michael Sasse, Leitender Oberarzt der Abteilung für Pädiatrische Intensivmedizin der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) und Leiter des Pädiatrischen Intensivnetzwerks (PIN) an der MHH: „Die Zustände in den Kinderkliniken sind für mich und mein Team beinahe unerträglich geworden und wir leiden sehr unter der Unterversorgung der uns anvertrauten Kinder.“ Im Rahmen der DIVI-Umfrage etwa berichten 51 Kliniken von abgelehnten Patientenanfragen. Somit berichten 46,4 Prozent der an der Umfrage teilnehmenden Kliniken von insgesamt 116 abgelehnten Patientinnen und Patienten – an nur einem Tag.
Radikaler Rot-Stift in der Kinderkrankenpflege rächt sich mit prekärer Notlage
Gerade in der kinderkardiologischen und kinderherzchirurgischen Intensivpflege sind ein fundiertes Fachwissen und viel Erfahrung gefragt, um den hohen Ansprüchen an die Versorgung schwerstkranker Neugeborener, Kinder und Jugendlicher gerecht zu werden. Dass in den letzten Jahren nicht nur mehrere Zehntausend Pflege-Stellen abgebaut wurden, sondern auch zahlreiche Kinderkrankenpflegeschulen dem Rotstift zum Opfer fielen, ist einer der Hauptgründe für die Notlage des Pflegedienstes in Kinderkliniken und besonders in der Kinderintensivpflege. „So kann der dringende Bedarf an neuen Pflegerinnen und Pflegern in den Kinderkliniken nicht gedeckt werden“, gibt Kai Rüenbrink, Sprecher des ABAHF, zu bedenken. Wie dringend der Handlungsbedarf ist, macht der Kinder- und Notfallmediziner aus München PD Dr. med. Florian Hoffmann, DIVI-Generalsekretär, deutlich: „Das sind derzeit katastrophale Zustände. Ein Armutszeugnis für Deutschland.“
Angesichts zahlreicher nicht besetzbarer Planstellen bleibt den Kliniken oft nichts anders übrig, als Intensivbetten unbelegt zu lassen. Müssen Notfälle aufgenommen werden, müssen bei den Patienten mit planbaren (elektiven) Eingriffen oft lange geplante Operationen verschoben werden. „Für das Kind und die Eltern, die sich vom Arbeitgeber eigens haben beurlauben lassen, ist das eine Katastrophe“, so ABAHF-Sprecher Rüenbrink.
Internationale Studien (3) zeigen, dass eine Unterbesetzung im Pflegedienst das Risiko für Schädigungen der Patienten durch sogenannte unerwünschte Ereignisse erhöht. Werden diese schweren Komplikationen aufgrund einer Überlastung des Pflegepersonals zu spät oder gar nicht erkannt, kann das zum Tod im Krankenhaus führen.
„Wir appellieren deshalb an die Bundesregierung, die Thematik Pflegenotstand ernst zu nehmen und die Versorgung intensivpflegebedürftiger Kinder schnellstmöglich in den Griff zu bekommen“, betonen Herzstiftungs-Vorstand Prof. Hofer und ABAHF-Sprecher Rüenbrink. Das ABAHF folgt den Forderungen der Intensivmediziner des DIVI, u. a.
- Eine Optimierung der Arbeitsbedingungen durch Ausfallkonzepte im Bereich der Kinderkrankenpflege (geplante Freizeit bleibt Freizeit, Urlaub bleibt Urlaub) sowie durch Entlastung von pflegefernen Aufgaben (MFA, Pflegeassistenz, Hostessen, Reinigungskräfte)
- Eine Optimierung der Ausbildungsbedingungen und die Verpflichtung der Kinderkliniken, Kinderkrankenpfleger*innen auszubilden.
Laut einer von der Hans-Böckler-Stiftung geförderten Untersuchung (2) könnte u.a. eine Vielzahl PflegerInnen zurückgewonnen werden, wenn die Arbeitsbedingungen verbessert und Teilzeitkräfte zur Aufstockung ihrer Stundenzahl motiviert würden. Auch Berufsrückkehrer*innen mit jahrelanger Erfahrung könnten so zurückgewonnen werden.
- DIVI-Pressekonferenz: Aktuelle Situation der Kinderintensivmedizin (01.12.2022) https://youtu.be/X4UcQ651dqQ „DIVI-PM: Aktuelle Klinik-Umfrage belegt: Durchschnittlich kein freies Intensivbett für kritisch kranke Kinder – Notfallmediziner fordern neue Strukturen“ vom 01. Dezember 2022, abgerufen am 9.12.2022: https://www.divi.de/presse/pressemeldungen/pm-aktuelle-klinik-umfrage-belegt-durchschnittlich-kein-freies-intensivbett-fuer-kritisch-kranke-kinder-notfallmediziner-fordern-neue-strukturen
- Auffenberg, J. et al., „Ich pflege wieder, wenn ...“, Potenzialanalyse zur Berufsrückkehr und Arbeitszeitaufstockung von Pflegefachkräften, Ein Kooperationsprojekt der Arbeitnehmerkammer Bremen, des Instituts Arbeit und Technik Gelsenkirchen und der Arbeitskammer des Saarlandes, April 2022
- Aiken, Linda H et al. BMJ 2012;344:e1717, doi: https://doi.org/10.1136/bmj.e1717
Kane RL, et al. Nursing Staffing and Quality of Patient Care. Evidence Report/Technology Assessment No. 151 (Prepared by the Minnesota Evidence-based Practice Center under Contract No. 290-02-0009.) AHRQ Publication No. 07-E005. In: https://archive.ahrq.gov/downloads/pub/evidence/pdf/nursestaff/nursestaff.pdf
c/o Deutsche Herzstiftung e.V.
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- Tel. 069 955128-114/-140
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- www.herzstiftung.de
Das Aktionsbündnis Angeborene Herzfehler (ABAHF)
Um in der Öffentlichkeit mit einer Stimme für eine bessere Versorgung von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit angeborenen Herzfehlern und deren Familien einzutreten und ihnen noch effektiver zu helfen, haben sich 2014 auf Initiative der Deutschen Herzstiftung e. V. sechs bundesweit tätige Patientenorganisationen zum „Aktionsbündnis Angeborene Herzfehler“ (ABAHF) zusammengeschlossen. Die Organisationen sind: Bundesverband Herzkranke Kinder e.V., Bundesverein Jemah e.V., Fontanherzen e.V., Herzkind e.V., Interessengemeinschaft Das Herzkranke Kind e.V. und die Kinderherzstiftung der Deutschen Herzstiftung e.V.
Etwa 8.500 Neugeborene mit angeborenem Herzfehler kommen in Deutschland jährlich zur Welt. Heute erreichen rund 90 % dieser Kinder dank der Fortschritte der Kinderherzchirurgie und Kinderkardiologie das Erwachsenenalter. Die Zahl der Erwachsenen mit angeborenem Herzfehler (EMAH) wird auf über 300.000 geschätzt.