Die Sprechstundenfrage im Wortlaut:
Ich bin im Moment ziemlich verzweifelt. Mein Sohn Paul (geb. 1993) hat schwerwiegende Verhaltensauffälligkeiten – bereits seit Jahren. Diese begannen nach seiner zweiten Operation im März 1998, als er einen Aortenklappenersatz bekam. Seit dieser Zeit zeigten sich bereits im Kindergarten Konzentrationsstörungen, Aufmerksamkeitsprobleme etc.
Als er eingeschult wurde, verstärkte sich das Ganze. Es wurde auch eine Rechenschwäche diagnostiziert, und es gab erste Hinweise aufgrund von Tests, dass ein ADS vorliegt, das heißt ein Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom mit hyperaktivem Verhalten.
Diese Störung hatten wir mehr oder minder gut mit Hilfe von Therapien (Ergo, Kinesiologie, Psychomotorik, Rechenschwächetherapie und vor allem Homöopathie) im Griff. Die Grundschule hat er durch diese intensive Unterstützung erfolgreich durchlaufen, so dass einer Realschulempfehlung nichts im Wege stand. Nun besucht er die Realschule in der 6. Klasse, und es geht stetig bergab. Seine Konzentrations- und Aufmerksamkeitsprobleme werden immer schwerwiegender. Die Rechenschwäche, die erfolgreich behandelt war, ist verstärkt wieder zurückgekehrt. Ich musste mir nun endgültig professionelle Hilfe suchen – bei einer Psychiaterin, nachdem die Alternativmedizin überhaupt keine Wirkung mehr zeigte und die Situation in Schule und Familie unerträglich wurde.
Er wurde nochmals getestet: ADS hochgradig! Und ohne medikamentöse Unterstützung werden voraussichtlich auch die anderen Therapieansätze nicht fruchten: Psychotherapie mit Schwerpunkt Verhaltenstherapie und Tiefenpsychologie. Die Zukunftsperspektiven im Hinblick auf einen erfolgreichen Schulabschluss sind sehr schlecht.
Nun wende ich mich an Sie: Gibt es Erfahrungen, ob das Medikament Ritalin nicht doch bei Kindern mit dieser Vorerkrankung eingesetzt werden kann? Es gibt viele Meinungen, die aber nie auf Erfahrungen basieren. Unser Kinderkardiologe hat Ritalin gleich abgelehnt.
Gern würde ich wissen, ob es Erfahrungswerte gibt bei herzkranken Kindern, die Ritalin nehmen müssen. Denn ich habe den Eindruck, die Entscheidung für oder wider diese Behandlung basiert nur auf Hörensagen und dem Beipackzettel des Medikaments. Ich möchte nicht unsere womöglich einzige Chance auf Hilfe ablehnen, ohne eine genaue Hintergrundinformation zu haben.
Zu ergänzen ist, dass mein Sohn aus kardiologischer Sicht „kerngesund“ ist. Es gibt überhaupt keine Komplikationen. Der Herzklappenersatz schränkt ihn in keiner Weise ein. Bei den halbjährlichen Untersuchungen sind alle Werte (Ultraschall, EKG, Blutbild, Sauerstoff, Entwicklung und Wachstum) immer optimal. Auch die Einstellung von Marcumar bereitet keine Schwierigkeiten und seine Blutgerinnung ist immer sehr konstant. (Fam. K., Ulm)
Expertenantwort:
Mit großer Aufmerksamkeit habe ich den Fall
Ihres Sohnes gelesen.
Obwohl wir am Deutschen Herzzentrum in Berlin zahlreiche Kinder und Jugendliche mit angeborener Aortenklappenerkrankung behandeln, ist mir kein einziger Patient bekannt, der in einer ähnlichen Konstellation Ritalin bekommt. Unsere Erfahrungen sind also, um es vorsichtig auszudrücken, begrenzt.
Grundsätzlich würden wir eine solche Fragestellung interdisziplinär, das heißt unter Einbeziehung verschiedener Fachrichtungen, in Ihrem Fall zum Beispiel Kinderpsychiater, Kinderneurologen, Kinderkardiologen, Pharmakologen etc. diskutieren.
Daher empfehle ich Ihnen, diese Beratung durch ein heimatnah gelegenes Zentrum für angeborene Herzfehler möglichst mit angeschlossener Kinderklinik durchführen zu lassen. Möglicherweise sind Sie ja bereits an ein solches Zentrum angebunden, so dass es Ärzte gibt, die die Befunde Ihres Sohnes auch über einen längeren Verlauf gut kennen. Sonst könnte Ihr Kinderkardiologe auch die Koordination der verschiedenen medizinischen Fachrichtungen übernehmen. Wichtig ist, dass Sie sich in die Obhut von Ärzten begeben, denen Sie vertrauen und die Ihren Sohn über einen längeren Zeitraum betreuen können, zumal bei der Konstellation auch in Zukunft noch andere Probleme auftreten könnten.
Zu Ihrer Frage kann ich nur in Bezug auf die mir zur Verfügung stehende Literatur Stellung nehmen: Ritalin (Wirkstoff Methylphenidat) hemmt die Aufnahme von Dopamin und Noradrenalin in den zentralen Schaltzellen (Synapsen) des Gehirns und die Aufnahme von Noradrenalin in den Nervenendungen des Körpers. Es wirkt daher auf den Herzmuskel und das Herzkreislaufsystem stimulierend – ähnlich einer Gabe von Adrenalin – und kann so zu einer verstärkten Herztätigkeit, zu einem beschleunigten Puls, zu erhöhtem Blutdruck und zu Extraschlägen im Herzen führen.
Aus diesem Grund besteht die Empfehlung, Ritalin vorsichtig anzuwenden bei Kindern mit operierten Herzfehlern wie Ihr Kind, bei Rhythmusstörungen, die keine Auswirkungen auf die Herzkreislaufsituation haben oder bei Kindern, die im Säuglingsalter eine Herzrhythmusstörung durchgemacht hatten. Patienten mit schweren Herzfehlern, die mit einer Druckbelastung oder Volumenbelastung einer Herzkammer einhergehen, sollten Ritalin nicht einnehmen. Dies ist bei einer nicht-operierten Aortenklappenstenose der Fall.
Es sind nur wenige Fälle von schwerwiegenden Nebenwirkungen von Ritalin auf das Herz in der Literatur beschrieben – so der Fall eines Kindes, welches in den USA plötzlich nach Einnahme von Ritalin starb. Einzelne Fälle mit erhöhtem Herzschlag, erhöhtem Blutdruck oder auch Extraschlägen sind beschrieben.
Es gibt also streng genommen wohl keine absolute Gegenanzeige. Man muss aber abhängig von den Herzbefunden eine Entscheidung treffen. Eine solche Frage lässt sich ohne genaue Kenntnis der Herzbefunde nicht beantworten.
Daher auch mein Rat, sich an ein Herzzentrum Ihres Vertrauens zu wenden, wo diese Fragen mit verschiedenen Fachdisziplinen diskutiert werden können.
Experte
Dr. med. Björn Peters ist Oberarzt in der Abteilung für angeborene Herzfehler und Kinderkardiologie des Deutschen Herzzentrums Berlin. Zu den klinischen und wissenschaftlichen Schwerpunkten des Spezialisten für angeborene Herzfehler zählen u. a. Herzkathetereingriffe, Schrittmachertherapie, Intensivmedizin und die Behandlung von Erwachsenen mit angeborenen Herzfehlern.