Zielwerte, individuelles Risikoprofil, Krankheitsstadium: Herzstiftungs-Experte ordnet Neuerungen der Leitlinien für Betroffene mit Bluthochdruck ein
(Frankfurt a. M., 18. Juli 2023) Bluthochdruck ist einer der wesentlichen Risikofaktoren für Herz- und Gefäßerkrankungen. So kann ein dauerhaft unzureichend oder nicht behandelter Bluthochdruck zu Herzerkrankungen wie Herzschwäche und Vorhofflimmern oder zu schwerwiegenden Komplikationen wie Gehirnblutung, Schlaganfall, Herzinfarkt oder Nierenversagen führen. Über 20 Millionen Menschen haben in Deutschland einen hohen Blutdruck, etwa jeder dritte Erwachsene. Zwar ist die gesundheitliche Gefahr, die von dauerhaft erhöhten Werten ausgeht, hinlänglich bekannt. Dennoch ist die Zahl derer, die ihren Blutdruck kontrollieren und ihre Werte kennen, vergleichsweise gering. In Deutschland schätzen Experten, dass das etwa bei jedem fünften Erwachsenen der Fall ist. Neue Leitlinien der Europäischen Gesellschaft für Hypertonie (ESH) [1], die im Juni 2023 vorgestellt wurden, berücksichtigen die individuellen Aspekte einer Hochdrucktherapie, z. B. die Einteilung nach Krankheitsstadien des Bluthochdrucks oder eine Vereinfachung der Blutdruckzielwerte, die es den Patienten erleichtert, therapeutische Maßnahmen für ihren Schutz vor Komplikationen besser nachzuvollziehen und zu akzeptieren. „Das ist wichtig. Denn zum einen verursacht Bluthochdruck zunächst einmal keine Beschwerden, Stichwort ,stiller Killer‘. Zum anderen, sind Patienten oft verunsichert, wenn sie die Diagnose Bluthochdruck erhalten“, betont Prof. Dr. Thomas Voigtländer, Vorstandsvorsitzender der Deutschen Herzstiftung und Ärztlicher Direktor des Agaplesion Bethanien-Krankenhauses Frankfurt am Main, in einer Einordnung der neuen Hypertonie-Leitlinien unter https://herzstiftung.de/leitlinie-hypertonie-2023 „Die neuen Leitlinien geben konkrete Antworten auf häufige Fragen wie: Ab welchen Blutdruckwerten sollte ich tatsächlich Medikamente nehmen? Und auf welchen Wert muss mein Blutdruck möglichst sinken, damit das Herz effektiv geschützt ist?“
Pragmatische Zielsetzung erleichtert die Kommunikation
Insgesamt ähneln die neuen Empfehlungen den bisherigen. Doch die Blutdruckzielwerte wurden zum Beispiel vereinfacht. Ganz pragmatisch gilt nun offiziell die Empfehlung, dass jeder Patient, jede Patientin im Alter zwischen 18 und 79 Jahren auf Werte unter 140 mmHg systolisch und 90 mmHg diastolisch (mmHg: Millimeter-Quecksilbersäule) eingestellt werden sollte. Diese Empfehlung gilt auch für Patienten über 80 Jahre, wenn das vertragen wird. Denn damit könnte die bluthochdruckbedingte Gesundheitsgefahr insgesamt deutlich verringert werden, betonen die Leitlinien-Autoren. Die Empfehlung kommt somit der Behandlungsrealität nahe und dient als eine Art Zielkorridor, der Anpassungen an die individuelle Situation eines Patienten durchaus zulässt. Denn das heißt nicht, dass niedrigere Werte nicht gut wären. Als bestätigt gilt ein Bluthochdruck im Allgemeinen, wenn bei mindestens zwei bis drei Praxisbesuchen in Abständen von ein bis vier Wochen erhöhte Werte ab 140/90 mmHg vorliegen oder eine deutliche Blutdruckerhöhung (≥180/110 mmHg) beziehungsweise hohe Werte bei bereits bekannter Herzerkrankung.
Eine Senkung auf Werte unter 130/80 mmHg ist in der Regel mit noch besseren Therapieergebnissen verbunden, vor allem bei Patienten mit bereits bestehender Herzerkrankung – ist aber für manche Patienten auch mit unerwünschten Effekten verbunden. Schwindel oder verstärkt Nebenwirkungen der Blutdrucksenker bei intensiver Therapie sind möglich. „Das bestätigt, was auch die Deutsche Herzstiftung immer geraten hat. Eine Blutdrucktherapie nutzt nur, wenn sie auch vom Patienten vertragen wird und die Medikamente regelmäßig eingenommen werden“, so Prof. Voigtländer. „Wichtig ist auch, dass klargestellt wird: Werte unter 120/70 mmHg sollten bei einer Blutdrucktherapie vermieden werden.“
Bei Hochbetagten mehr Spielraum für Therapiebeginn – „individuelle Entscheidung“
Für Patienten über 80 Jahre gilt entsprechend der neuen Leitlinien eine spezielle Empfehlung: Während generell eine medikamentöse Therapie ab einem beim Arzt gemessenen durchschnittlichen systolischen Wert über 140 mmHg und einem diastolischen Blutdruckwert über 90 mmHg ratsam ist, kann bei den Älteren auch ein systolischer Wert bis 160 mmHg toleriert werden. Zielwert ist dann ein systolischer Blutdruck wenigstens zwischen 140-150 mmHg, er darf aber auch niedriger sein. Vorsicht ist dann geboten, wenn bereits sehr niedrige diastolische Werte unter 70 mmHg vorliegen. „Die Entscheidung, ab welchem Blutdruck bei Hochbetagten mit einer Therapie begonnen wird, ist immer eine individuelle Entscheidung. Dabei spielen vor allem die allgemeine Gebrechlichkeit und weitere Begleiterkrankungen eine wichtige Rolle“, erläutert Voigtländer. Ebenfalls wichtig: Eine schon früher begonnene Blutdrucktherapie sollte auch bei Hochbetagten möglichst fortgesetzt werden.
Medikamente: Kombinationstherapie effektiver als Monotherapie
Die Empfehlungen zur medikamentösen Therapie sind im Wesentlichen unverändert. „Eine Zweierkombination aus ACE-Hemmer oder Sartan plus Kalziumantagonist oder Diuretikum ist hier in der Regel der erste Schritt zur Blutdrucksenkung“, erläutert der Frankfurter Kardiologe. Reicht das nicht, sollte eine Dreierkombination aus diesen Wirkstoffklassen versucht werden. Auf der dritten Stufe kommen weitere Substanzen ins Spiel. Wie bisher sind die Aldosteron-Antagonisten (Spironolacton/Eplerenon) als wichtige Substanzklasse bei der Behandlung der schwer einstellbaren Hypertonie genannt. Neu ist bei diesen Patienten der Einsatz des Kombinationspräparates aus Neprilysinantagonist und Sartan (ARNI, Angiotensin-Receptor-Neprilysin-Inhibitor) als Empfehlung zur Blutdrucksenkung. Wenn dieses Kombinationspräparat eingesetzt wird, müssen allerdings der ACE-Hemmer beziehungsweise das Sartan aus der bisherigen Therapie abgesetzt werden. Bei Patienten, die bereits Nierenschäden aufweisen, wird die Therapieempfehlung zudem um Wirkstoffe aus der Gruppe der sogenannten SGLT-2-Inhibitoren (Gliflozine) ergänzt wie Empagliflozin. „Wir haben inzwischen ein neues Verständnis, wie der Bluthochdruck reguliert wird beziehungsweise durch eine Funktionsstörung aus vielen Mechanismen entsteht, bei der verschiedenste Faktoren ineinandergreifen. Das erklärt auch, warum wir mit der Kombination von Medikamenten, die ganz unterschiedlich wirken, den Blutdruck viel effektiver senken können als durch eine Monotherapie“, so Voigtländer.
Bei Patienten mit niedrigem bis mittlerem kardialen Risiko und mit einem Blutdruck im hohen Normalbereich (130-139 mmHg systolisch und 85-89 mmHg diastolisch) besteht die Empfehlung, keine blutdrucksenkende medikamentöse Therapie einzuleiten. Bei diesen Patienten sollte sich die Intervention vorerst auf eine Lebensstilberatung beschränken.
Regelmäßige Blutdruckmessung kann Hypertonie aufdecken
„Zu begrüßen ist auch, dass in den Leitlinien nochmals auf die Wichtigkeit einer regelmäßigen Blutdruckkontrolle verwiesen wird. So wird betont, dass bei jeder sich bietenden Gelegenheit auf das Vorliegen eines Bluthochdrucks gescreent werden sollte“, so der Herzstiftungs-Vorsitzende. „Bei Menschen über 40 Jahren heißt das: Lassen Sie sich einmal pro Jahr beim Hausarzt den Blutdruck checken.“ Risikopatienten wird dieses Vorgehen bereits in jüngeren Jahren empfohlen. Hier werden in den neuen Leitlinien auch Frauen nach der Menopause und Frauen mit einer Vorgeschichte von Schwangerschaftsbluthochdruck und Schwangerschaftskomplikationen wie einer Präeklampsie hervorgehoben.
Voigtländer rät: „Wer an sich gesund ist und nicht zum Hausarzt muss, sollte zumindest die Gelegenheit nutzen, sich immer mal wieder in der Apotheke den Blutdruck messen zu lassen. Das kann ebenfalls einen Hinweis auf einen bisher unentdeckten Bluthochdruck liefern.“ Je früher ein Bluthochdruck entdeckt wird, desto besser lassen sich die genannten Folgen für Herz und andere Organe wie Gehirn und Nieren vermeiden.
Neue Stadieneinteilung anhand von Organschäden
Sinnvoll ist ebenfalls, dass neben der bisherigen Einteilung nach Blutdruckwerten (z.B. optimal, normal, hochnormal) drei Krankheitsstadien des Bluthochdrucks systematisch hervorgehoben werden. „Denn damit lassen sich besser die fortschreitenden Schäden an Organen wie Herz, Hirn und Nieren bei einem unbehandelten Bluthochdruck vor Augen führen“, wie Prof. Voigtländer betont. „Wir möchten Patienten im Gespräch keine Angst machen. Dennoch unterschätzen viele die Folgen ihres Bluthochdrucks – bis es zu spät ist und zum Beispiel ein Herzinfarkt eingetreten ist oder die Nieren schwer geschädigt sind“, so der Kardiologe. Das ist die Einteilung:
- Stadium I: unkomplizierte Erkrankung, bei der noch keine merklichen Organschäden vorliegen (gilt auch bis zu einer Nierenerkrankung Grad 1 und 2)
- Stadium II: leichte Organschäden sind erkennbar, etwa der Beginn einer chronischen Nierenerkrankung (Grad 3), oder das zusätzliche Vorliegen von Diabetes mellitus
- Stadium III: es liegen bluthochdruckbedingte kardiovaskuläre Erkrankungen vor oder eine fortgeschrittene chronische Nierenerkrankung (Grad 4 und 5)
„Die Stadieneinteilung kann in der Kommunikation helfen, dass Betroffene die Notwendigkeit von Lebensstiländerungen und gegebenenfalls einer medikamentösen Behandlung verstehen und akzeptieren“, so der Kardiologe und Intensivmediziner.
Service-Tipp:
Bluthochdruck durch Schlafstörungen, Migräne und Lärm – Yoga und Kalium als natürliche Senker? Was in den Hypertonie-Leitlinien noch neu und wichtig ist, stellt der Herzstiftungs-Beitrag mit einer Experten-Einordung durch Prof. Voigtländer unter https://herzstiftung.de/leitlinie-hypertonie-2023 vor.
Infos rund um Bluthochdruck bietet die Herzstiftung kostenfrei telefonisch unter 069 955128-400, per Mail unter bestellung@herzstiftung.de oder auf der Homepage unter: https://herzstiftung.de/bluthochdruck
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