(Frankfurt a. M., 25. September 2023) In Deutschland sind bis zu 270.000 Menschen Träger des Gendefekts für eine Familiäre Hypercholesterinämie (FH). Doch ist diese angeborene Störung des Lipidstoffwechsels nur bei einem von hundert Betroffenen diagnostiziert. Das kann fatale Folgen haben. Denn das Tückische der FH ist, dass die damit verbundenen, teils enorm hohen LDL-Cholesterinwerte bereits im Kindesalter ihre gefäßschädigende Wirkung durch Ablagerungen an den Gefäßwänden (Arteriosklerose) entfalten können. Auch wenn dieser Vorgang meist über Jahre schleichend ohne Beschwerden verläuft, liegt darin ein großes Gefahrenpotential. Unerkannt und unbehandelt kann dies schon im frühen Erwachsenenalter zu Gefäßverschlüssen, Herzinfarkten und Schlaganfällen führen. Das Risiko für ein kardiovaskuläres Ereignis ist um das 5- bis 20-fache erhöht. Daher haben die Deutsche Herzstiftung und das Bayerische Gesundheitsministerium bereits vor zwei Jahren die Vroni-Studie unter Leitung des Deutschen Herzzentrums München (DHM) mit unterstützt, bei der solche Risikopersonen für die lebensbedrohliche Erbkrankheit in der bayerischen Bevölkerung frühzeitig identifiziert werden. In Bayern sind so schon 15.000 Kinder gescreent und mehr als 120 betroffene Familien entdeckt worden. „Herz-Kreislauf-Erkrankungen sind in Deutschland nach wie vor Todesursache Nummer eins. Und wir sind bei der Lebenserwartung insgesamt im westeuropäischen Vergleich eher Schlusslicht“, betont Kardiologe Prof. Dr. Thomas Voigtländer, Vorstandsvorsitzender der Deutschen Herzstiftung. „Frühzeitiger als bisher jene Menschen zu erfassen, die ein erhöhtes Risiko für eine Herzerkrankung und einen Herztod haben, könnte uns einen guten Schritt weiterbringen, das zu ändern.“
Ziel: Aufnahme des FH-Screenings in die Regelversorgung
Dazu startet jetzt – aufbauend auf den Erkenntnissen aus Bayern – die große Studie: „Vroni im Norden“. Daten aus Niedersachsen und Bayern werden hierbei zusammengeführt. Ziel ist es, so die bisherige Datenlage zu erweitern und neue wissenschaftlich relevante Fragen zu beantworten. Dies soll letztlich auch den Grundstein dafür legen, dass ein FH-Screening künftig in die Regelversorgung in Deutschland aufgenommen wird. Die Deutsche Herzstiftung finanziert dieses großanlegte Projekt mit 500.000 Euro zusammen mit der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie (DGK) im Rahmen der Nationalen Herz-Allianz und der Schwiete Stiftung. DGK und Schwiete Stiftung beteiligen sich zu gleichen Teilen an der Förderung der Studie. „Wir unterstützen gerne patientennahe Forschungsprojekte, die die herzmedizinische Diagnostik und Versorgung verbessern helfen“, erläutert Voigtländer. „Das Projekt `Vroni im Norden´ ist ein gutes Beispiel dafür, wie in einem strukturierten und standardisierten Verfahren vielen Kindern und ihren Familien langfristig geholfen werden kann mit einer genetischen Veranlagung umzugehen, die ein hohes Risiko fürs Herz birgt.“ Prof. Dr. Holger Thiele, Präsident der DGK ergänzt: „Ein solches systematisches Screening könnte tatsächlich so etwas wie ein Meilenstein zu Reduktion der Arteriosklerose werden.“
Zwei Formen der familiären Hypercholesterinämie
Die Familiäre Hypercholesterinämie (FH) ist eine angeborene Störung des Lipidstoffwechsels, die durch eine ausgeprägte Erhöhung des LDL-Cholesterins (LDL-C) im Plasma charakterisiert ist. Mit einer geschätzten Prävalenz von 1:250 ist die FH die häufigste monogen vererbte Erkrankung. Sie wird autosomal dominant vererbt. Das bedeutet, dass statistisch mindestens die Hälfte der Kinder eines Genträgers ebenfalls erkranken. Bei der heterozygoten Form überträgt nur ein Elternteil das für die Krankheit ursächliche Gen auf das Kind. Bei der – viel selteneren und schwerer verlaufenden – homozygoten Form stammt das FH-Gen von Mutter und Vater.
Nur weniger als fünf Prozent der Betroffenen mit FH adäquat behandelt
Das Fatale an der FH: Schon von Kindheit an erhöht sich dadurch das Risiko von Gefäßablagerungen und -schäden – meist tritt dies in Form einer frühen koronaren Herzerkrankung (KHK) zutage. Häufig kommt es schon vor dem 60. Lebensjahr zu einem Herzinfarkt oder Schlaganfall. Bei einer homozygoten FH sterben Betroffenen oft sogar bevor sie das 20. Lebensjahr erreichen.
Das Gute: Eine FH kann durch molekulargenetische und klinische Untersuchungen zuverlässig diagnostiziert werden. Bei frühzeitiger Diagnose kann so frühzeitig mit einer Therapie begonnen werden kann. Bei Kindern mit einer heterozygoten FH lässt sich dann das Risiko auf das Niveau der Allgemeinbevölkerung senken. Dennoch werden Schätzungen zufolge aktuell weniger als fünf Prozent der Betroffenen in Deutschland adäquat behandelt.
Der Vorläufer: Vroni und Fri1dolin
Die Vroni-Studie erprobt Logistik und den Erfolg der frühzeitigen Diagnostik einer familiären Hypercholesterinämie (FH) inklusive genetischer Testung bei Kindern in Bayern im Alter von 5 bis 14 Jahren. Sie startete Anfang 2021 unter Leitung einer Arbeitsgruppe am Deutschen Herzzentrum München (DHM) und läuft noch bis 11/2024. Die Untersuchung in Zusammenarbeit mit dem Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte in Bayern umfasst eine Blutentnahme (200 Mikroliter Kapillarblut) aus dem Finger der Probanden im Rahmen der Vorsorgeuntersuchungen U9 bis J1 oder bei jedem anderen Kinderarztbesuch. Im DHM wird anschließend das LDL-Cholesterin bestimmt. Bei erhöhten LDL-Werten folgt eine genetische Untersuchung.
Im Rahmen der Fr1dolin-Studie wurde in Niedersachsen ebenfalls ein pädiatrisches FH-Screening (plus Screening auf Typ-1-Diabetes) bereits erfolgreich erprobt. Hierbei wurden –koordiniert durch das Diabeteszentrum im Kinder- und Jugendkrankenhaus auf der BULT in Hannover in Zusammenarbeit mit der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) sowie dem Helmholtz-Zentrum München – Kinder im Alter zwischen zwei und sechs Jahren untersucht. Im Blutserum wurden dabei das LDL-Cholesterin und Diabetesantikörper bestimmt mit dem Ziel, frühzeitig intervenieren und schulen zu können. Start war im Oktober 2016. Die Studie ist inzwischen abgeschlossen.
Neu: Vroni im Norden
Im Norden Deutschlands mit Studienzentrum in Hannover und unter Nutzung der etablierten Infrastrukturen der Vroni- und Fr1dolin-Studien soll nun ein neues FH-Screening-Projekt inklusive genetischer Testung etabliert werden. Zugleich soll damit in Bayern die Vroni-Studie über 11/2024 für weitere drei Jahre fortgeführt werden. Im wissenschaftlichen Teil der Studie wird bei einer der Voruntersuchungen U9 bis J1 oder jedem anderen Kinderarztbesuch Kindern im Alter von 5-14 Jahren ein Screening auf Familiäre Hypercholesterinämie angeboten.
Im ersten Schritt erfolgt über eine Kapillarblutabnahme die Bestimmung des LDL-Cholesterins in München. Bei einem Wert ≥130 mg/dl erfolgt direkt eine genetische Analyse. Außerdem wird bei allen Kindern mit einem LDL-C von ≥130 mg/dl das Lipoprotein (a) in einer Zweitprobe bestimmt, da neben einer FH-typischen Mutation weitere genetische Faktoren das Risiko für eine koronare Herzerkrankung vermutlich erhöhen. Kindern, bei denen pathogene Varianten festgestellt wurden, werden anschließend durch Kinderkardiologen bzw. Kinderlipidologen weiterbetreut. Der wissenschaftliche Leiter der Studie, Professor Heribert Schunkert, Direktor der Klinik für Erwachsenenkardiologie am Deutschen Herzzentrum München, hofft, mit Hilfe der gewonnenen Erkenntnisse nicht nur die medizinische Expertise zur Diagnostik und Therapie der FH zu verbessern. „Es ist uns ein großes Anliegen, generell die Aufmerksamkeit für die Familiäre Hypercholesterinämie durch PR- und Aufklärungskampagnen zu steigern. Die Untersuchung sollte in absehbarer Zeit Routine in ganz Deutschland werden,“ bekräftigt der Kardiologe.
In einem zweiten Schritt, der die Versorgungsmedizin im Fokus hat, geht es darum, Patienten mit Hypercholesterinämie und monogener FH zahlenmäßig (epidemiologisch) genauer zu erfassen. Ausgehend vom sogenannten Indexpatienten – dem Kind – soll dazu ein familiäres Kaskadenscreening eingeleitet werden. So können weitere Angehörige mit FH identifiziert werden, da eine Weitervererbung mit einer Häufigkeit von 50 Prozent zu erwarten ist.
Zu den Zielen gehört neben einer Verstetigung des FH-Screenings als Regelversorgung (z.B. bei der U9-Untersuchung) das Erfassen wichtiger Registerdaten, die Diagnostik und Therapiesituation verbessern können. Außerdem soll auf lange Sicht ein FH-Netzwerk von Kinderkardiologen, Kardiologen und Schulungszentren aufgebaut werden zur leitliniengerechten Therapie der FHe bei betroffenen Kindern und deren Familien. „Von diesem Cholesterin-Screening könnten nicht nur die betroffenen Kinder und ihre Familien profitieren. Das Projekte könnte auch generell das Bewusstsein für den Risikofaktor Cholesterin in der Bevölkerung verbessern“, hofft DGK-Präsident Prof. Thiele.
„Mehr Aufmerksamkeit zu schaffen für Herzerkrankungen und für die Möglichkeiten ihnen vorzubeugen, ist auch ein zentrales Anliegen der Deutschen Herzstiftung“, begründet Voigtländer die Unterstützung der Studie. „Dies ist eine Aufgabe, die wir zudem im Rahmen der Nationalen Herz-Allianz gerne wahrnehmen zusammen mit allen kardiologischen Fachgesellschaften. Denn eine starke Allianz für mehr Herzgesundheit entfaltet auch über die Grenzen von Deutschland hinaus Signalwirkung – bei Herzpatienten wie auch in der Politik, die wichtige Weichenstellen kann in der Versorgung.“
Die Studien Vroni und Vroni 2 sind wichtige Vertreter einer europaweiten Initiative zur Früherkennung der FH, die mit der „Prague Declaration“ unter der tschechischen Präsidentschaft derzeit in der EU verfolgt wird.
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