Interview

Das Herzinfarkt-Risiko einfach wegspritzen?

Inclisiran wird in den Medien als „Cholesterin-Killer" bezeichnet und als „Spritze gegen Herzinfarkt“. Doch was ist dran an dieser Behandlungsform?

Aktualisiert: 13.01.2023

Darstellung von einem Herz und Medikamenten und Spritze
Rasi - stock.adobe.com

Jedes Jahr werden fast 200.000 Menschen in Deutschland mit einem akuten Herzinfarkt in ein Krankenhaus geliefert, fast 45.000 sind daran im Jahr 2020 gestorben (Deutscher Herzbericht 2021). Nun macht eine „Spritze gegen Herzinfarkt“ von sich reden. Gibt es das wirklich? Prof. Ulrich Laufs vom wissenschaftlichen Beirat der Deutschen Herzstiftung und Experte auf dem Gebiet klärt auf, was das Besondere an dem enthaltenen Wirkstoff Inclisiran ist, und beantwortet wichtige Fragen im Interview.

Der Herzinfarkt zählt seit vielen Jahren schon zu den zehn häufigsten Todesursachen. Warum tut sich anscheinend so wenig im Bereich Herzinfarkt?

Laufs: Wir sind bereits deutlich besser geworden, was die interventionellen Möglichkeiten bei einem akuten Herzinfarkt angeht. Aber wir haben zwei bleibende Probleme. Das eine ist die sogenannte Prähospitalphase, also die Zeit, bevor Patienten das Krankenhaus erreichen. Nach wie vor findet hier zu oft keine Herzdruckmassage durch eine anwesende Person (Familie, Kollegen, Passanten) statt. In der Klinik bekommen wir dann zwar oft das Herz noch gut repariert, doch der Patient, sofern er überlebt, leidet ohne Herzdruckmassage häufig unter neurologischen Ausfällen. Das zweite Problem ist die Vorbeugung. In dem Moment, wo ein Herzinfarkt auftritt, ist ‚das Kind ja schon in den Brunnen gefallen‘ und man hat viele Jahre versäumt, Risikofaktoren wie Zigarettenrauchen, Bewegungsmangel, Bluthochdruck und das hohe Cholesterin ausreichend zu behandeln. Auch da müssen wir besser werden.

Es ist ja bekannt, dass vor allem die Arteriosklerose, also Ablagerungen unter anderem von Blutfetten, das Hauptproblem für unsere Gefäße darstellt. Wieviel haben wir denn wirklich selbst in der Hand, damit sich solche Ablagerungen nicht bilden?

Laufs: Ich gebe Ihnen mal eine provokante Antwort: Ich glaube, wir haben sehr viel oder sogar fast alles selbst in der Hand. Es gibt zwei Kategorien von Risikofaktoren: Die einen, die wir durch unseren Lebensstil beeinflussen können – hier stehen das Zigarettenrauchen und Bewegungsmangel an erster Stelle – und die Risikofaktoren wie Cholesterin, Bluthochdruck und hoher Blutzucker, bei denen oft zusätzliche Therapiemaßnahmen nötig sind. Sie lassen sich im Rahmen von Vorsorgeuntersuchung feststellen, so dass dann entsprechend gehandelt werden kann. Die anderen sind genetisch, also erblich – aber auch hier können wir durch Lebensstil den Verlauf enorm beeinflussen.

Und da kommt jetzt zum Beispiel die erwähnte Spritze vielleicht mit ins Spiel. Was macht denn diese Spritze so attraktiv beziehungsweise vielleicht besser als die bisher angebotenen Behandlungsmöglichkeiten?

Laufs: Es handelt sich bei dem diskutierten Medikament um Inclisiran, einen Wirkstoff zur Senkung des Cholesterins. Dies geschieht durch Hemmung eines Proteins (Enzyms) namens PCSK9, das die Zahl der LDL-Rezeptoren auf den Leberzellen reguliert. Es ist der erste Vertreter einer ganz neuartigen Klasse von Medikamenten: ein PCSK9-Hemmer und ein sogenannter siRNA-Wirkstoff. Er wird wie die beiden anderen PCSK-9-Hemmer Alirocumab und Evolocumab ebenfalls unter die Haut gespritzt wird. Das Besondere: Die Substanz greift direkt und hochspezifisch in den genetisch programmierten und über RNA vermittelten Produktionsprozess des Enzyms PCSK9 ein. Unsere Erbinformation selbst, die DNA, wird aber nicht durch diesen Wirkstoff berührt, nur die Übermittlung der genetischen Information.

Das klingt sehr euphorisch …

Ja, denn wir können mit diesem Wirkprinzip, der Hemmung von spezifischen RNA-Molekülen in der Leberzelle, Dinge erreichen, die der klassischen Pharmakologie bisher nicht zugänglich waren. Das ist im Lipidstoffwechsel zum Beispiel das Lipoprotein (a), für das wir bisher keine Tabletten erfinden konnten. Doch bei aller Euphorie über den Wirkmechanismus: So ein Medikament muss sich nun in einer weiteren klinischen Prüfung beweisen, also in einer randomisierten prospektiven Studie, wo nach dem Zufallsprinzip die eine Hälfte der Teilnehmer das Medikament bekommt, die andere nicht. Und dann sieht man, ob nicht nur das LDL-Cholesterin sinkt – das wissen wir schon –, sondern ob tatsächlich damit Herzinfarkte, Schlaganfälle und damit verbundene Todesfälle verhindert werden. Eine solche Studie ist auch schon am Start und in der Nachbeobachtungsphase, aber sie ist noch nicht abgeschlossen und ausgewertet. Das wird noch einige Zeit dauern.

In Anbetracht der Sorgen, die einige Menschen gegenüber mRNA-Impfstoffen hegen, die gegen Covid-19 eingesetzt werden: Gibt es bei dem geschilderten Wirkprinzip des RNA-PCSK9-Hemmers einen Unterschied zu den mRNA-Impfstoffen?

Laufs: Ja, einen deutlichen. Es geht zwar im Prinzip auch um den genetischen Botenstoff RNA. Aber die Impfstoffe setzen RNA ein, um ein Stück eines spezifisches Viruseiweiß zu produzieren, damit sich körpereigene Abwehrstoffe – Antikörper – dagegen bilden, um so dann Coronaviren abzuwehren. Bei den siRNA-Wirkstoffen ist es quasi umgekehrt: Es wird nichts neu hergestellt, sondern es wird ein bestimmter Stoffwechselweg hochspezifisch gehemmt.

Lassen Sie uns einen Blick auf die Wirksamkeit werfen. Bisherige Studiendaten gehen davon aus, dass sich mit Inclisiran das LDL-Cholesterin um etwa 50 Prozent senken lässt. Aber dann bleibt ja noch die andere Hälfte LDL-Cholesterin im Blut, oder?

Laufs: Das ist richtig. Doch wir haben ausgerechnet, dass sich mit einer Senkung des LDL-Cholesterins um die Hälfte – je nachdem, wie hoch das Ausgangscholesterin ist und je nach individuellem Risikoprofil – und bei einem Therapiestart in jungen Jahren eine Arteriosklerose zu 60 bis 90 Prozent verhindern ließe. Damit könnte man, wenn z.B. die siRNA-Spritze keine Nebenwirkungen hat und man die Behandlung dauerhaft durchführt, einen Großteil der Arteriosklerose ausrotten. Das Prinzip der RNA-Medikamente könnte für die Zukunft bedeuten, dass die Art, wie wir Arzneimittel verwenden, fundamental anders aussehen könnte, weil wir eben auf solche Technologien zurückgreifen können.

Ein kleiner Wermutstropfen sind allerdings die aktuell sehr hohen Kosten für diese Spritzen mit einem PCSK9-Hemmer – auch wenn sie wie im Fall von Inclisiran nur zweimal im Jahr gegeben werden müssen.

Laufs: Kosten für neue Medikamente sind ein ganz schwieriges Thema. Doch immerhin sind die Kosten für PCSK9-Antikörper bereits um ein Drittel gesunken. Ein ganz wichtiger Punkt zu diesen RNA-Medikamenten ist, dass viel intellektuelle Entwicklung dahintersteckt, aber die eigentliche Herstellung prinzipiell preiswert ist. Das heißt, wenn man das über die Jahre betrachtet und unter anderem die Patentrechte abgelaufen sind, dann hätte man eine hochspezifische Therapie mit geringen Herstellungskosten, und das hätte sogar das Potenzial, für erhebliche finanzielle Entlastung zu sorgen. Das ist aber Zukunftsmusik. Im Moment sind die Medikamente hochpreisig, keine Frage.

Nicht jeder mag zwar Spritzen, aber wer sie nur zweimal im Jahr bekommt, muss nicht täglich eine Tablette, etwa ein Statin einnehmen. Auf der anderen Seite: Droht nicht dann die Gefahr, dass Patienten denken ‘Gut, ich habe ja jetzt meine Spritze bekommen, bin geschützt, also brauche ich mich jetzt gar nicht mehr so sehr um andere Sachen zu kümmern, zum Beispiel um Bewegung oder Ernährung‘. Was denken Sie dazu?

Laufs: Die Inclisiran-Spritze erhält man einmal zu Beginn, dann nach 3 Monaten und im Weiteren alle 6 Monate, d.h. zweimal im Jahr. Ich sehe eine Chance in der gesicherten Wirksamkeit für sechs Monate. Denn das größte Problem bei Dauertherapien – sei es gegen Bluthochdruck, Diabetes, aber insbesondere auch gegen zu hohes Cholesterin – das sind die vergessenen Tabletten. Und in dem Moment, wo eine Tablette vergessen ist, kann natürlich die Wirkung nicht da sein. Auf der anderen Seite bin ich ein Verfechter davon, dass Prävention stets in ein Gesamtkonzept eingebunden ist, das Arzt und Patient gemeinsam besprechen müssen. Und das umfasst an erster Stelle den Lebensstil und dann erst Medikamente. Das muss bleiben.  

Vielen Dank für dieses Gespräch.  

Kontakt

Univ.-Prof. Dr. med. Ulrich Laufs
Prof. Ulrich Laufs

Wer bekommt Inclisiran verordnet?

Das Medikament Inclisiran (Handelsname Leqvio) ist bisher nur unter bestimmten Voraussetzungen zulasten der gesetzlichen Krankenversicherung verordnungsfähig, (analog zu den anderen PCSK-9-Hemmern Alirocumab und Evolocumab). Es ist seit dem 09.12.2020 zugelassen bei

  • Erwachsenen mit primärer Hypercholesterinämie (heterozygot familiär und nicht familiär) oder
  • Patienten mit gemischter Dyslipidämie bei Statinintoleranz oder unzureichender LDL-Cholesterin-Senkung unter der maximal tolerierten Statindosis.

Begleitend soll eine Ernährungsberatung erfolgen. Eine Kombination mit anderen lipidsenkenden Therapien ist möglich, bei Statinintoleranz oder Kontraindikationen gegen Statine auch eine Monotherapie. Ein Facharzt (z.B. Kardiologe) muss die erfolglosen maximalen diätetischen und medikamentösen lipidsenkenden Therapieversuche über mindestens 12 Monate vor Beginn der ersten Inclisiran-Verordnung (Statine und/oder andere Lipidsenker bei Statin-Kontraindikation) dokumentieren.

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